text: leowee | illustration: mone maurer |
m publication | germany | vol 4_2005

_jeder mensch ist sein eigenes land

Mensch Meier liegt lahm. Um die Deutschen zu mobilisieren, propagieren Erwecker aus Politik, Mode und Pop patriotisches Händchenhalten. Doch ist ein deutsches Wir nicht obsolet, wo längst von der Weltgesellschaft die Rede ist? Was fehlt diesem Volk wirklich?

Patriotismus ist für andere Länder selbstverständlich, für die Deutschen seit Hitler verdächtig. Was die Deutschen heute verbindet, ist die Negation ihres vaterländischen Selbstbewusstseins. Dafür belächeln sie die Nachbarn und die Jugend fordert: Schluss mit der Scham und vorwärts! Trauen wir uns endlich aus der schuldbefleckten Wäsche unserer Geschichte zu linsen! Grübeln ist out, Spaßkonsum in. Aber mal ehrlich: Wer von den Jungen schämt sich denn noch der Nazivergangenheit? Wer identifiziert sich mit den Großeltern?

Beschämend sollte für sie doch eher sein, was sie gegenwärtig selbst verbocken: etwa dass sie ballermännisch grölend in südliche Gefilde einfallen, um sich dort zu beschweren, dass das Klima zu heiß, das Klo zu dreckig und das ewige Weißbrot kein Zustand ist. Dass sie sich auf der Suche nach ein bisschen Superstar aufs Entwürdigendste verbohlen lassen. Dass ihnen keine Talkshow, keine Soap, keine Quizsendung zu primitiv ist, um mit dem täglichen Einschalten des Fernsehers ihre Selbstbestimmung abzuschalten.

Wozu aber propagieren aufbruchsgestimmte Popformationen derzeit mit geradewegs plumper Naivität ein neues Wir-Gefühl?

So freut sich das deutsche »Ich« der angesagten Band Mia aus Berlin darauf »frische Spuren in den weißen Strand« zu machen und erklärt sein Land damit mal eben zum unbeschriebenen Blatt. Deutsche Geschichte tausendmal gehört, tausendmal davon berührt und noch immer nichts kapiert?

Mehr Farbe bekennen Mia bei der Neudeutung der deutschen Trikolore: Schwarzer Kaffee, roter Mund, gelbe Sonne. Nett, wenn sie Aufgewecktheit, Mitsprache, Klarheit meinen. Doch wird es bei ihnen erst hell, wenn der Mund küsst. »Es ist was es ist, sagt die Liebe.« Unverblümt entwenden die Elektropunker dem Poeten Erich Fried seinen berühmten Vers über das Erhabene der intimen Liebe – und meinen Vaterlandsliebe.

So weit haben Mia Recht: Nur wer sich samt seiner Vergangenheit (selbst)bewusst akzeptiert, kann sich wandeln. Deutschland ist, was es ist. Aber muss es denn gleich Liebe sein? Viel wäre ja schon erreicht, wenn jeder Einzelne das Verdrängte anerkennen und in sein kollektives Ich integrieren würde. Denn aus Fehlern kann nur klug werden, wer sie begriffen hat.

Längst geschehen? Offenbar nicht. »Geschichte fängt beim Ändern an«, singt Frontfrau Mieze. Was nicht heißen darf, die Geschichte zu revidieren. Oder was ist das sonst, wenn die Wolfsheim-Stimme Peter Heppner zu Paul van Dyks Techno-Ringelpiez »Wir sind wir« die Deutschen zum Kriegsende als »besiegt« statt »befreit« besingt, also als Opfer? Gedankenloser Pfusch? Dumpfer Reaktionismus? Oder nur garstige Blödheit?

Wir sind eben nicht »wir«, »das Volk«. Die Hoffnung auf ein wiedervereinigtes Selbstverständnis ist zu einer Fratze von Jammerossis und Besserwessis verkommen. Die einen lassen, nachdem sie postwendend ins Klo gegriffen haben, in Ostalgieschauen verulken, was sie retrospektiv verklären. Die anderen reden sich ihre konsumverzagte Depression schön, indem sie Geiz geil finden.

Und müssen wir denn überhaupt »wir« sein, in einer Zeit, in der die Welt durch globale Kommunikationsnetze und Billigflieger enger zusammenrückt? Heißt die neue Vision nicht Internationalität?

Der zentrale Anspruch der Moderne ist das selbstbestimmte Individuum. Traditionelle Familienformen lösen sich auf zugunsten selbstgewählter Verbindungen. Geradlinige Lebensläufe weichen multioptionalen Bastelbiografien. Wo die heterogenen und multikulturellen Gesellschaften im postmodernen Europa genügend berufliche, kulturelle und soziale Identifikationsangebote stellen, bedarf es keines nationalen Kuschelns mehr. Die Nation als Hilfskonstrukt einer lokal orientierten Kulturstufe hat ausgedient.

Stolz sollten die Deutschen heute nicht als Deutsche sein, sondern als geistreiche und kreative europäische Subjekte mit einer Brücke zur Welt. Die gründliche Analyse ihrer Vergangenheit bildet dafür die Basis. Denn das historische Über-Ich Deutschlands ist mehr als ein »neurotischer« Dämpfer seines Nationalgefühls. Es ist die Prophylaxe gegen blinden Fanatismus.

Satt und zufrieden ist Mensch Meier jedoch auf der Analysecouch eingedöst und schnarcht noch während es heftig kriselt in trägem Konformismus vor sich hin. Medien, Lobbyisten und Multifunktionäre bilden ihm die Meinung. Elementare Entscheidungen überlässt er dem Staat und sieht der als Reform getarnten Umverteilung von unten nach oben ohnmächtig zu.

Kleiner Mann, was nun? Die Chinesen führen das gleiche Schriftzeichen für »Krise« und »Chance«. Ein deutsches Sprichwort sagt dazu »Not macht erfinderisch« ...

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testperson deutsch | illustration: mone maurer |
m publication | germany | vol 4_2005

 

Ergebnis

Diagnose

Therapie

Aufgrund der Neigung zum selbstmitleidigen Sofahocken ist von einer Psychoanalyse auf der Couch abzuraten. Eine Verhaltenstherapie lehrt es Selbstveranwortung.

 

Der Rorschachtest wurde um 1911 vom Schweizer Psychiater Hermann Rorschach entwickelt. Die emotionale Deutung symmetrischer Klecksgebilde soll auf die Persönlichkeitsstruktur und Dynamik eines Menschen schließen lassen.

 

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